10

 

Auf der Fahrt in die Stadt bereute ich es mehrmals fast, mein Handy eingeschaltet und Manfreds Nachricht abgehört zu haben. Das war die schrecklichste Autofahrt meines Lebens. Tolliver schlug sich wacker, aber er verwendete jedes Schimpfwort, das er kannte, sogar welche, die ich nicht verstand. Auf der Fahrt kam uns ein einziges Auto entgegen. In diesem saßen lauter halbwüchsige Jungs, die bekanntlich alle einen angeborenen Todestrieb haben. Kaum hatte ich das gedacht, fielen mir die Jungen in der gefrorenen Erde wieder ein, und ich schämte mich.

Der Besucherparkplatz des Krankenhauses war kaum gefüllt. Schnee hatte das matschige Areal vor dem Gebäude bedeckt, sodass es beinahe schön aussah. Als wir hineingingen, war niemand am Empfang, also liefen wir so lange herum, bis wir ein Schwesternzimmer fanden. Dort fragten wir nach Xylda Bernardo.

»Oh, die Hellseherin«, sagte die Schwester leicht bewundernd. »Die liegt auf der Intensivstation. Ihr Enkel sitzt dort im Wartebereich, falls Sie mit ihm sprechen wollen.« Sie erklärte uns, wie wir dahin kämen, und wir fanden Manfred, den Kopf in die Hände vergraben, dort vor. Er saß in einer dieser engen bestuhlten Wartenischen. Überall standen alte Kaffeebecher und alte Zeitschriften herum. Das Reinigungspersonal schien es heute Morgen nicht bis ins Krankenhaus geschafft zu haben. Ein gutes Zeichen war das nicht.

»Manfred«, sagte ich, »erzähl, wie geht es Xylda?« Als er den Kopf hob, sahen wir, dass seine Augen gerötet waren. Sein Gesicht war tränenüberströmt.

»Ich versteh das nicht«, sagte er. »Es ging ihr schon wieder besser. Sie ist gestern Abend zwar zusammengebrochen, aber heute Morgen ging es ihr besser. Wir hatten den Arzt gerufen. Der Pfarrer war da und hat mit uns gebetet. Sie wollten sie auf eine normale Station verlegen. Aber dann bin ich nur kurz aus dem Zimmer gegangen, um mir einen Kaffee zu holen und zu telefonieren, und als ich zurückkam, lag sie im Koma.«

»Das tut mir leid«, sagte ich. Was anderes bleibt einem sonst in der vorliegenden Situation nicht zu sagen übrig.

»Was meint der Arzt?«, fragte Tolliver. Ich setzte mich neben Manfred und legte ihm die Hand auf die Schulter. Tolliver nahm neben uns Platz, die Ellbogen auf die Knie gestützt. Ich sah in sein ernstes, konzentriertes Gesicht und spürte eine Liebe in mir aufwallen, die mich beinahe umwarf. Ich musste mich zwingen, mich wieder auf Manfred und Xyldas schrecklichen Zustand zu konzentrieren.

»Es war derselbe Arzt, der dich untersucht hat, Harper«, sagte Manfred. »Der Typ mit den weißen Haaren. Er macht einen recht fähigen Eindruck. Er glaubt nicht, dass sie wieder aufwacht. Er weiß nicht, warum sich ihr Zustand so verschlechtert hat, aber gleichzeitig hat es ihn auch nicht überrascht. Das klingt alles nicht sehr ... eindeutig. Niemand sagt mir, was sie eigentlich hat. Ich dachte, die Medizin wäre da heute weiter.«

»Hast du deine Verwandtschaft benachrichtigt?«

»Meine Mutter ist schon unterwegs. Aber bei den jetzigen Straßenbedingungen wird sie es nicht von Tennessee bis hierher schaffen, bevor Großmutter gestorben ist.«

Das war ja furchtbar. »Deine Mutter überlässt dir also die Entscheidungen?«

»Ja. Sie sagt, sie weiß, dass ich das Richtige tue.«

Wie schön, wenn eine Mutter so etwas sagt, aber was für eine Verantwortung!

»Ich dachte«, sagte Manfred nach einer langen Pause, »dass ihr mir vielleicht einen Rat geben könnt, wenn ihr bei ihr wart.« Er sah mich dabei an und klang sehr ernst. Nach einem kurzen Moment begriff ich, was er meinte. Er wollte wissen, ob ihre Seele noch da war.

Gut. Alles in mir sträubte sich dagegen, aber ich nickte.

Er zeigte mir die Tür zur Intensivstation, die bei so einem kleinen Krankenhaus natürlich recht winzig war. Wahrscheinlich wäre es besser, Xylda in ein größeres Krankenhaus mit mehr Apparaten verlegen zu lassen - denn darauf lief es doch letztendlich hinaus? Aber es gab keine Möglichkeit, sie dorthin zu transportieren. Die Natur hatte wieder einmal über die Technik gesiegt. Das schien mir jedoch verwunderlich, als ich all die Apparate sah, an die Xylda Bernardo angeschlossen war. Sie registrierten alles, was in ihr vorging. Und doch musste Manfred, wenn er etwas so Einfaches wissen wollte, wie ob sich die Seele seiner Großmutter immer noch in ihrem Körper befand, mich bitten, dies herauszufinden.

Ich ergriff kurz Xyldas schlaffe Hand, aber das wäre gar nicht nötig gewesen. Xyldas Seele war nach wie vor da. Das tat mir fast leid, denn für ihre Familie hätte es die Entscheidung erheblich vereinfacht, wenn ihre Seele sich bereits von ihr gelöst hätte.

Barney Simpson steckte mit einem fragenden Blick den Kopf herein.

»Ich dachte, wir hätten Sie vor die Tür gesetzt«, sagte er leise, aus Respekt vor der reglosen Gestalt auf dem Bett.

»Sie besuchen auch Patienten auf der Intensivstation?«

»Nein, aber die Angehörigen dieser Patienten. Ich habe gesehen, dass jemand bei ihr ist, also ging ich nachsehen.«

»Ich habe nur kurz ihren Enkel abgelöst«, sagte ich.

»Sie sind eine gute Freundin. Das ist die andere Dame, stimmt's?«

»Ja, Xylda Bernardo, die Hellseherin.«

»Sie hat der Polizei das mit Chuck Almand gesagt.«

Nach kurzem Zögern nickte ich. Das entsprach mehr oder weniger der Wahrheit.

»Ja.«

»Was für eine außerordentliche Gabe«, sagte Simpson. Er fuhr sich in dem vergeblichen Bemühen, es zu zähmen, mit der Hand durch sein dichtes Haar.

»Sie ist wirklich etwas ganz Besonderes«, sagte ich. Ich ging auf die Tür zu, um Manfred Bericht zu erstatten. Simpson trat einen Schritt zurück, um mich vorbeizulassen. Eine Schwester betrat an uns vorbei Xyldas Zimmer. »Sie schon wieder«, sagte sie zu Simpson. »Sie werde ich heute wohl gar nicht mehr los.«

»Nein. Mein Auto ist zugefroren«, sagte er lächelnd.

»Oh, sie sind also gar nicht freiwillig hier«, erwiderte sie.

»Ich würde liebend gern nach Hause fahren.«

Dasselbe galt auch für mich.

Als ich wieder bei Manfred war, hatte Barney Simpson seine Runde bereits fortgesetzt.

»Sie ist nach wie vor intakt«, sagte ich. Manfred schloss die Augen, ob aus Verzweiflung oder Dankbarkeit, wusste ich nicht.

»Dann werde ich hier bei ihr warten«, sagte er. »Solange, bis sie geht.«

»Was können wir für dich tun?«, fragte Tolliver.

Manfred sah ihn mit einem Gesichtsausdruck an, der mir beinahe das Herz brach. »Nichts«, sagte er. »Wie ich sehe, hast du sie erobert. Aber es ist schön, mit euch beiden befreundet zu sein, und ich bin wirklich dankbar, dass ihr die Strapazen auf euch genommen habt, zu uns in die Stadt zu kommen. Wo wohnt ihr?«

Wir erzählten ihm von der Hütte am See. Er lächelte über die Geschichte mit den Hamiltons. »Wann fahrt ihr wieder?«, wollte er wissen. »Ich nehme an, die Polizei hat euch die Erlaubnis dazu gegeben?«

»Wahrscheinlich morgen«, sagte ich. »Aber vorher schauen wir noch mal im Krankenhaus vorbei. Bist du sicher, dass ich dir nichts mitbringen kann?«

»Da es im Krankenhaus immer noch Strom gibt«, sagte Manfred, »ist es vielleicht genau andersherum. Die haben hier warmes Essen. Die Cafeteria ist geöffnet.«

Das Wort »Krankenhauscafeteria« klang nicht besonders verlockend, aber »warmes Essen« dafür umso mehr. Wir überredeten Manfred mitzukommen und aßen hot biscuits mit Sauce, einen Hamburger und grüne Bohnen. Ich schwor mir, in der nächsten Woche doppelt so viel joggen zu gehen.

In letzter Minute wäre ich fast umgekehrt, um bei Manfred zu bleiben. Er wirkte so einsam, sagte aber: »Es bringt nichts, wenn ihr hierbleibt, Harper. Aber ich weiß das Angebot sehr zu schätzen. Wir können nichts tun, außer warten, und das kann ich auch alleine. Meine Mutter müsste morgen Vormittag hier sein, dann sind die Straßen wieder frei. Ich werde Großmutters Zimmer ab und zu kurz verlassen, um meine Mailbox abzuhören.«

Ich umarmte Manfred, und Tolliver gab ihm die Hand. »Wenn du uns brauchst, sind wir sofort da, Kumpel«, sagte er, und Manfred nickte.

»Ich glaube nicht, dass sie die Nacht überlebt«, sagte er. »Sie ist am Ende. Aber wenigstens saß sie gestern noch kurz in der Sonne. Sie erzählte mir, dass der Junge die Tiere auf jeden Fall getötet hat, dass da aber noch irgendetwas im Gange sei.«

»Zum Beispiel?« Ich drehte mich im Gehen noch einmal zu Manfred um. Das waren keine guten Nachrichten.

Er zuckte die Achseln. »Das hat sie mir nicht gesagt. Sie meinte, das ganze Grundstück sei von einem Sumpf des Bösen umgeben.«

»Hmmmmm.« Nun, ein ›Sumpf des Bösen‹ klang ziemlich schlimm. Was konnte Xylda bloß damit gemeint haben? Genau das macht mich rasend an Hellsehern.

»Sie hat ein anderes Wort verwendet.«

»Als was?«

»Als Sumpf. Sie hat... Miasma gesagt? Heißt das so?«

Manfred war nicht dumm, aber keine Leseratte. »Ja. Das bedeutet übler Dunst, stimmt's Tolliver?«

Tolliver nickte.

Hatte ich etwas übersehen, eine Leiche vielleicht? Hatte ich einen Fehler gemacht? Die Vorstellung war so schrecklich, dass ich die bittere Kälte kaum bemerkte, als wir zu unserem Wagen gingen. »Tolliver, wir müssen noch mal auf dieses Grundstück.«

Er sah mich an, als sei ich verrückt. »Bei diesem Wetter willst du deine Nase in fremde Grundstücke stecken?«, fragte er, seine gesammelten Einwände in einem Satz zusammenfassend.

»Ich weiß, dass das Wetter nicht gerade ideal dafür ist. Aber Xylda...«

»Xylda hat die Hälfte der Zeit gelogen, und das weißt du auch.«

»Aber hier nicht.« Mir fiel etwas ein.

»Weißt du noch, als sie in Memphis gesagt hat, ›in der Eiszeit wirst du glücklich sein‹?«

»Ja«, sagte er, »das weiß ich noch. Und wir haben jetzt Eiszeit, und bevor du Landfriedensbruch begehen wolltest, war ich auch noch glücklich.« Er wirkte kein bisschen glücklich, sondern besorgt. »Ehrlich gesagt wollte ich zurück zur Hütte fahren, Feuer im Kamin machen und wieder glücklich sein.«

Ich lächelte, ich konnte einfach nicht anders. »Warum fragen wir nicht einfach?«, sagte ich.

»Wir fragen den Typen einfach, ob wir uns noch mal auf seinem Grundstück umsehen dürfen? Wir fragen ihn, ob er ein paar Leichen dort versteckt hat, während wir nicht hingeschaut haben? Weil der Ort von einem Miasma des Bösen umgeben ist?«

»Ich weiß, was du sagen willst. Trotzdem, wir müssen irgendwas unternehmen.«

Tolliver hatte gleich, als wir eingestiegen waren, den Motor angelassen, und endlich war die Standheizung warm. Ich beugte mich ein wenig vor, um mir die heiße Luft direkt ins Gesicht blasen zu lassen.

»Wir fahren dort vorbei und sehen uns um«, sagte er höchst widerwillig.

»Und danach setzen wir deinen Plan mit der Hütte in die Tat um.«

»Okay, dieser Teil deines Vorhabens klingt gut.«

Wir nahmen dieselbe Route wie am Vortag und schlitterten und holperten abwechselnd durch die beinahe verlassenen Straßen zu Tom Almands Grundstück. Dort, wo die Fahrzeuge der Polizei und der Journalisten geparkt hatten, war der Boden aufgewühlt. Der Schlamm war gefroren und hatte einen schwarz überkrusteten See gebildet. Tolliver parkte an einer Stelle, die vom Haus aus nur sehr schwer einsehbar war. Ich stieg aus dem Wagen und bewegte mich vorsichtig auf die Scheune zu. Was hatte ich dort übersehen?

In der Scheune war die Luft kalt und abgestanden, der Lehmboden wies mehrere Löcher auf. Hier waren die geopferten Tiere ausgegraben worden. Ich dachte an den Jungen, Chuck, verdrängte seinen traurigen Blick jedoch sofort und konzentrierte mich auf jene Schwingungen, die nur Leichen aussenden - menschliche Leichen.

Als ich die Augen wieder öffnete, stand Chuck Almand vor mir.

»O Gott, hast du mir einen Schreck eingejagt!«, sagte ich und griff mir mit der behandschuhten Hand an den Hals.

Er trug dicke Stiefel und eine dicke Jacke, Mütze, Handschuhe und einen Schal. Wenigstens er war dem Wetter entsprechend gekleidet.

»Was wollen Sie hier?«, fragte er. »Denken Sie, Sie haben etwas übersehen?«

»Ja«, sagte ich. Ich hatte keine überzeugende Geschichte auf Lager. »Ja. Ich habe mich gefragt, ob ich etwas übersehen habe.«

»Sie glauben, hier könnten irgendwo Menschenleichen liegen?«

»Das versuche ich gerade herauszufinden.«

»Hier gibt es keine. Die wurden alle ausgegraben, draußen, bei Daveys alter Farm.«

»Und du weißt nichts von anderen Leichen?«

Seine Augen begannen zu flackern, und ich hörte noch jemanden draußen. Gott sei Dank.

Die Scheunentür ging auf, und mein »Bruder« kam herein.

»Hallo, Chuck«, sagte er beiläufig. »Bist du fertig, Schatz?«

»Ja, ich denke schon«, erwiderte ich. »Das Ergebnis ist negativ, genau, wie wir erwartet haben.«

Chuck Almands helle, leuchtende Augen fixierten die meinen.

»Sie brauchen keine Angst vor mir zu haben«, sagte er.

»Das habe ich auch gar nicht.« Ich versuchte zu lächeln. Es stimmte, direkt Angst hatte ich nicht vor dem Jungen. Aber ich fühlte mich sehr unwohl in seiner Nähe und sorgte mich irgendwie um ihn.

Dann hörte ich eine andere Stimme von draußen rufen: »Chuck! He, Kumpel, bist du da drin? Wer ist denn da?« Zu meinem Erstaunen veränderte sich Chucks Gesichtsausdruck von einer Sekunde auf die andere, und der Junge boxte mich, so fest er konnte, in den Magen. Seine Lippen bewegten sich dabei, das sah ich, während ich zu Boden fiel.

»Raus hier!«, schrie er. Ich kniete im kalten Lehm und starrte zu ihm hoch. »Raus hier! Das ist Landfriedensbruch!«

Tom Almand eilte durch die in ihren Angeln quietschende Tür.

»Junge! O mein Gott, Chuck, was hast du getan?«

Tolliver war bereits neben mir, um mir aufzuhelfen. »Du kleiner Hurensohn«, sagte er zu dem vor mir stehenden Jungen. »Rühr sie nie wieder an. Sie hat dir nichts getan.«

Ich sagte nichts. Ich starrte ihm nur in die Augen und hielt mir mit meinem gesunden Arm den Bauch. Was, wenn er erneut zuschlug? Diesmal wollte ich darauf gefasst sein.

Doch es kam nur zu einem erhitzten Wortwechsel. Tom Almand entschuldigte sich in einem fort, und Tolliver machte deutlich, dass er nicht zulassen würde, dass mich noch einmal jemand schlüge, und auch, dass er den Jungen nicht mehr in meiner Nähe sehen wolle. Tom fand, wir hätten hier nicht einfach so eindringen dürfen. Tolliver sagte, die Polizei sei froh gewesen, uns noch am Vortag hierherbringen zu können. Tom ließ uns wissen, dass das nicht am Vortag gewesen sei und dass wir verdammt noch mal sein Grundstück verlassen sollten. Tolliver sagte, wir würden der Aufforderung liebend gern Folge leisten, und er könne noch von Glück sagen, dass wir nicht die Polizei riefen, um seinen Sohn wegen Körperverletzung anzuzeigen.

Ich stützte mich auf Tolliver, während dieser mir zum Wagen half. Er war vollkommen außer sich. Er musste sich schwer beherrschen, um nicht zu sagen: »Habe ich dich nicht gewarnt?« Er drohte gleich zu platzen. Aber dann schaffte er es doch, es nicht auszusprechen.

»Tolliver«, sagte ich, als wir sicher im Wagen und auf dem Rückweg zur Hütte waren.

Er unterbrach sein wildes Fluchen. »Ja?«

»Gleich nachdem er mich geschlagen hat und unmittelbar bevor er anfing, mich anzuschreien, hat der Junge gesagt, ›Es tut mir leid. Finden Sie mich später‹«, sagte ich.

»Ich habe nichts dergleichen gehört.«

»Er hat es ganz leise gesagt, eben damit du nichts hörst. Damit auch sein Vater nichts hört.«

»Er hat gesagt, dass du ihn finden sollst?«

»Er hat gesagt, dass es ihm leidtut. Dann hat er gesagt, dass ich ihn später finden soll.«

»Er ist also schizophren? Oder will er seinem Vater weismachen, dass er schizophren ist?«

»Ich glaube, er versucht seinem Vater etwas weiszumachen. Was, weiß ich nicht genau.«

Die restliche Fahrt zur Hütte schwiegen wir. Ich wusste nicht, was in Tolliver vorging, war aber vollauf damit beschäftigt, das Erlebte zu verarbeiten.

Als wir wieder oben vor der steilen Auffahrt parkten, konnten wir feststellen, dass bei den Hamiltons alles ruhig war, bis auf den Rauch, der aus dem Kamin stieg. Vielleicht machten sie ein Nickerchen. Die Idee gefiel mir.

»Ich bin nicht gerade stolz auf mich, dass ich so denke wie eine Siebzigjährige«, grummelte ich, während wir die Auffahrt hinunter zum Treppenaufgang gingen.

»Oh, uns fällt bestimmt was ein, das die Hamiltons nicht machen«, sagte Tolliver mit einer Stimme, die mein Blut sofort in Wallung brachte.

»Ich weiß nicht, die Hamiltons sind noch recht rüstig für Leute über siebzig.«

»Ich glaube, wir bekommen das besser hin als sie«, sagte Tolliver.

Wir kamen direkt zur Sache, und abgesehen von ein paar Pausen, in denen wir Holz nachlegten, gaben wir uns wacker Mühe. Keine Ahnung, wie die Hamiltons den Nachmittag verbrachten, aber wir konnten nicht klagen. Anschließend kamen auch wir noch zu unserem Nickerchen.

An diesem Abend machten wir uns noch mehr heiße Schokolade und aßen noch mehr Erdnussbutter. Wir hatten auch noch ein paar Äpfel. Ich würde gern behaupten, dass wir uns genauso lange unterhalten hätten, wie wenn der Strom noch da gewesen wäre, aber das wäre glatt gelogen. Wenn man in der Dunkelheit zusammen ist, stellt sich eine unglaubliche Nähe ein. Jedes Mal, wenn wir uns liebten, war ich mir seiner sicherer, und unsere neue Beziehung wurde immer solider. Keiner von uns hätte den Sprung von der Klippe gewagt, wenn wir nur einen weiteren One-Night-Stand gewollt hätten.

»Diese Kellnerin, neulich, in Sarne«, sagte ich. Ich zog die Augen schmal und sah ihn an. »Die hat mir wirklich zu schaffen gemacht, und ein paar Wochen lang wusste ich nicht warum.«

»Dafür gibt es genau zwei Gründe: Zum einen habe ich gehofft, dass du uns erwischst, die Frau verprügelst, sie rauswirfst und mir sagst, dass ich dein Ein und Alles bin. Zum anderen war ich einfach geil«, sagte Tolliver. »Außerdem hat sie mich angemacht. Okay, das sind schon drei Gründe.«

»Ich war fast dazu versucht«, gestand ich ihm. »Aber ich habe mich nicht getraut. Ständig habe ich gedacht: Was, wenn ich ihn bitte, das sein zu lassen, und er mich fragt, warum? Was soll ich ihm darauf antworten? Nein, mach das nicht, ich liebe dich? Damit du sagt, o Gott, ich kann dich nicht länger auf deinen Reisen begleiten?«

»Ich habe Angst gehabt, du könntest genau dasselbe sagen«, meinte er. »Dass du nicht mit jemandem zusammen sein kannst, der die ganze Zeit mit dir ins Bett gehen will. Dass du für deine Arbeit einen klaren Kopf brauchst und dich nicht mit so etwas wie Sex ablenken willst. Du hattest schließlich weniger Partner als ich.«

»Ich bin eine Frau«, sagte ich. »Ich geh nicht mit jedem ins Bett, der mit mir schlafen will. Ich bin da etwas anspruchsvoller.«

»Das gilt nicht für alle Frauen«, sagte er.

»Na ja, aber für die meisten schon.«

»Wirfst du mir das vor? Diese wahllos aufgegabelten Frauen?«

»Nicht, solange du dir nichts eingefangen hast. Und das, das weiß ich.«

Er ließ sich regelmäßig untersuchen und verwendete stets Kondome.

»Und jetzt«, sagte er, »sind wir zusammen.«

Das sollte wohl eine Frage sein. »Ja«, antwortete ich. »Wir sind zusammen.«

»Und du gehst mit keinem anderen ins Bett.«

»Nein. Und du?«

»Ich auch nicht. Du bist die Richtige.«

»Okay. Gut.«

Und plötzlich waren wir ein Paar.

Es war komisch, sich zum Schlafengehen fertig zu machen und dann in Tollivers Bett zu klettern.

»Wir müssen nicht immer im selben Bett schlafen«, sagte er. »Manche Betten werden noch schmaler und klappriger sein als das hier. Aber ich schlafe gern mit dir. Und damit meine ich wirklich nur schlafen.«

Mir ging es genauso, und es war einfacher als gedacht. Im Gegenteil, ihn neben mir atmen zu hören, ließ mich schneller eindösen als sonst. Ich hatte schon lange nicht mehr mit jemandem in einem Bett geschlafen, zuletzt mit meiner Schwester Cameron. Wenn ich bei einem Mann war, blieb ich meist nicht bis zum nächsten Morgen.

In dieser Nacht wachte ich mehrmals auf, realisierte meine Situation und schlief wieder ein. Als ich wieder einmal kurz wach lag, sah ich, dass mein Handy auf dem Boden neben dem Bett vibrierte. Ich griff danach.

»Hallo?«, sagte ich leise, um Tolliver nicht zu wecken.

»Harper?«

»Ja?«

»Sie ist gestorben, Harper.«

»Manfred, es tut mir so leid.«

»Harper, vielleicht wurde sie umgebracht. Ich war nicht im Zimmer.«

»Manfred, sag das bloß nicht laut, nicht, wenn dich jemand hören kann. Wo bist du jetzt?«

»Ich stehe vor dem Krankenhaus.«

»Wie kommst du auf diese Idee?«

»Weil es ihr besser ging. Die Schwester meinte sogar, es sei ihr vorgekommen, als habe Großmutter etwas sagen wollen. Dann ist sie gestorben.«

»Manfred, sollen wir kommen?«

»Morgen früh reicht. Das Wetter ist zu schlecht. Du kannst im Moment ohnehin nichts tun. Bleib im Bett. Ich seh euch morgen früh. Dann dürfte meine Mutter ebenfalls hier sein.«

»Manfred, du musst zurück ins Motel, und schließ die Tür ab. Iss oder trink nichts im Krankenhaus, verstanden?« Ich überlegte, ob ich ihm noch einen weiteren Rat geben konnte. »Und bleib nicht mit irgendjemandem allein, verstanden?«

»Verstanden, Süße.« Er schien nicht mehr ganz bei sich zu sein. »Ich steige jetzt ins Auto und fahr zum Motel.«

»He, ruf mich an, wenn du dort bist!«

Zehn Minuten später rief er erneut an, um mir zu sagen, dass er in Sicherheit sei und sich in seinem Zimmer eingeschlossen habe. Außerdem hätte er ein paar Reporter an der Bar getroffen und ihnen erzählt, dass ihm jemand gefolgt sei. Sie seien also in Alarmbereitschaft, so gut das Betrunkene überhaupt sein konnten. Sie alle fanden es widerlich, dass man ihn an einem so traurigen Abend verfolgt hätte. Aus irgendeinem Grund wussten sie bereits, dass Xylda gestorben war. Vielleicht bestachen sie jemanden aus dem Krankenhaus, Nachrichtenzentrale zu spielen.

Nichts von alledem weckte Tolliver. Das überraschte mich, bis mir einfiel, dass er ja draußen gewesen war, um Ted Hamilton zu helfen. Außerdem hatten wir ja auch drinnen kräftig Körperübungen gemacht.

Es war nach drei Uhr früh gewesen, als ich das letzte Mal mit Manfred gesprochen hatte. Ich lag wach und betete einen kurzen Moment für ihn. Da ich wusste, dass er in Sicherheit war und ich Xylda nicht mehr helfen konnte, schlief ich wieder ein.

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